Ich habe keine Zeit – lebe ich dann zeitlos?

Einkaufen ist für mich ein Greuel, außer auf dem Wochenmarkt oder im kleinen Laden mit Theke und persönlicher Beratung durch fröhliche entspannte Händler. Um den Wochenbedarf an Gemüse, Käse, Gewürze und Wurst zu decken verbringe ich oft drei Stunden auf dem Wochenmarkt. Der nächste auf dem Gutenberg-Platz in Karlsruhe gut sortierte ist 25 km weg von meinem Refugio. Die schönsten die ich in der näheren Umgebung kenne sind in Landau und Neustadt an der Weinstraße, vierzig und fünfzig km entfernt. Die französische Einfluß der Gelassenheit und der hohe Anspruch an die Qualität der Lebensmittel sind dort unverkennbar.

Sonst mehr wortkarg in der Kommunikation lebt Ludwig hier richtig auf. Beim Gemüsehändler ein Schwätzle machen, beim Käsemann sieben Sorten probieren, eine  köstlicher als die andere, nur drei gekauft und dabei von deren Herkunft und Herstellung erzählen lassen, läßt die Zeit wie im Flug vergehen.
Die Zeit als Maßstab unserer heutigen hysterischen Hektik ist da einfach nicht vorhanden. Sie hat sich gemütlich zurückgezogen, wohlwissend, daß sie hier überflüssig ist. Sie kann sich anderen Aufgaben widmen, die ihr größtes Anliegen ist – dem Menschen, der angeblich keine Zeit hat, obwohl sie immer und überall präsent ist. Die Zeit ordnet nicht, gibt keine Rahmenbedingung vor, wann und wie schnell etwas erledigt werden muß. Sie hat nichts mit dem Zeitmesser zu tun, den wir Uhr nennen.

Anderntags, wenn Ludwig nicht gut drauf ist, wird die Zeit als Qual empfunden. Der Tag will nicht enden. Sie scheint ihm Ketten anzulegen, die ein Entrinnen aus der handlungsunfähigen depressiven Situation verunmöglichen. Ist die Zeit womöglich multipolar, wenn sie einerseits wie im Flug vergeht und anderseits uns in Starre hält? Nichts von beiden, meint Ludwig. Sie ist individuell.

Die Zeit wird uns als ultimativer Maßstab gelehrt bzw. verkauft, oft mit sündhaft teuren Uhren, die sich in der Genauigkeit konkurrieren. An der Genauigkeit der Zeit beißen sich hochkarätige Wissenschaftler die Zähne aus. Denen ist aber nichts anderes eingefallen als  Atomuhren, die elektromagnetische Wellen einer bestimmten Frequenz abstrahlen oder absorbieren.  Im Klartext heißt das nichts anderes als daß sie den radioaktiven Zerfall notieren und bei einer bestimmten Menge die Sekunde als Einheit für die Zeit definieren. Wenn dem so sein sollte, wäre der Zeit übel mitgespielt.

Ihr wird jeglicher geistiger Anspruch auf die individuelle Entwicklung  des Menschen abgesprochen. Sie wird auf die niedrigste Ebene des gemeinsamen Lebens reduziert. Das hat große Vorteile für diejenigen, die um die schöpferische Aufgabe der Zeit wissen. Statt jedem Menschen seine eigene ihm bekömmliche Zeit zu lassen, werden alle auf eine gemeinsame Zeit, vorgegeben durch die Uhr getrimmt, die erst die berechenbare Gleichschaltung als Humankapital ermöglicht.

Ich habe keine Zeit, gewinnt in diesem Kontext eine ganz neue Perspektive. Der im Streß stehende Mensch, der sich nur an der Uhr-Einheitszeit orientiert, hat tatsächlich keine Zeit. Er hat seine Lebens-Zeit – seine eigene innere Uhr verkauft. Das kommt auf das Gleiche heraus, wie die Seele dem Teufel zu verkaufen.

Ich habe keine Zeit wird meistens als Ausrede benutzt, das eigene Leben nicht selbst gestalten können. Schon in der Schule, sogar bereits im Kindergarten werden wir auf die Einheits-Uhrzeit getrimmt, die nichts anderes im Sinn hat, als Sklave weiterhin berechenbar zu sein – zu funktionieren. Um ja nicht aus dem Takt zu kommen, also seine innere Uhr zu finden, werden inzwischen ganz üble Methoden angewandt. Die regelmäßige Umstellung der Uhr von Winter- auf Sommerzeit und zurück. Die eine Stunde wird mancher sagen ist doch harmlos. Die dient jedoch nur dazu, zweimal im Jahr Mensch und Vieh neu einzutakten. Dazu beim nächsten Wechsel mehr.

Noch übler wird mit der Zeit umgegangen, wenn sie zu Geld pervertiert wird. Zeit ist Geld. In unserer sog. zivilisierten Welt wird der moderne Sklave – der Hamsterradler zur Bilanznummer degradiert – äh er wähnt sich selbst als solche – oft sogar mit Stolz. Vernichtet damit freiwillig seine eigene Lebenszeit.

Ich habe keine Zeit – lebe ich dann zeitlos?

Ich habe keine Zeit mehr für solche Spielchen. Dann lebe ich zwar nicht zeitlos, aber in meiner eigenen Selbstbestimmten.

Freu mich auf rege Gedanken dazu.

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